Zwei
Trotz ihrer Nacktheit und ihrer prekären Lage verspürte Charlotte so etwas wie Hoffnung, als sie in Mr. Trevarrens attraktives Gesicht blickte.
»Ich kann Ihnen alles erklären«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln.
Er schickte den Seeman fort und warf Charlotte eine weiße Decke zu; die auf dem Bett gelegen hatte. »Das möchte ich auch hoffen«, erwiderte er in nüchternem Ton.
Sie nahm die Decke, war jedoch zu schwach, um sich zu erheben. »Ich wurde entführt, als meine Freundin und ich den Souk verließen ...«
Patrick reichte Charlotte einen Holzbecher mit Wein und ließ sich dann an seinem Schreibtisch nieder.
»Es war ein ziemlich unangenehmes Erlebnis, Mr. Trevarren ...«
Stirnrunzelnd nahm er ihr den leeren Becher ab und füllte ihn aus einer Karaffe. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
Charlotte errötete und stürzte den zweiten Becher Wein hinunter, erleichtert und zugleich verletzt, daß Patrick sich nicht an ihre Begegnung vor zehn Jahren zu erinnern schien. »Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte sie leise. »Könnte ich bitte noch etwas Wein haben?«
»Auf keinen Fall«, entgegnete Mr. Trevarren schroff und lehnte sich dann so gelassen in seinem Stuhl zurück, als sei es etwas Alltägliches für ihn, ein nacktes Mädchen in einem Sack geschenkt zu bekommen. »Sie sind jetzt schon beschwipst. Was Sie brauchen ist etwas zu essen und ein heißes Bad.«
Einen derart unfreundlichen Empfang hatte Charlotte sich in all ihren Träumen über Patrick Trevarren niemals ausgemalt. »Wollen Sie nicht einmal meinen Namen wissen?« fragte sie verwundert.
»Na schön.« Mr. Trevarren seufzte. »Wer sind Sie?«
Sein Mangel an Interesse erschütterte Charlotte, aber lieber wäre siegestorben, als sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen. »Ich werde es Ihnen nicht verraten«, entgegnete sie spitz. »So! Wie fühlt man sich, wenn man so unhöflich behandelt wird?«
Er rieb sich den Nacken, wie Charlotte es von ihrem Vater kannte, wenn er sich über Lydia ärgerte. Dann stand Mr. Trevarren auf, packte Charlotte an den Schultern und zog sie auf die Beine. »Hören Sie mit Ihren Spielchen auf! Wir sind hier nicht im Kindergarten!« fuhr er sie an.
Kaum lockerte er seinen Griff, gaben Charlottes Knie nach, und zu ihrer Beschämung sank sie auf den Fußboden zurück.
Patrick fluchte verhalten und hob sie auf, trug sie zum Bett und ließ sie recht unsanft auf die Matratze fallen.
Charlottes Augen wurden groß. Sie hatte sich diesen Moment unzählige Male vorgestellt, aber ihn wirklich zu erleben, war etwas völlig anderes. Ihre Kehle zog sich vor Angst zusammen.
Patricks Gesichtsausdruck wurde sanfter, er beugte sich über Charlotte und lächelte. »Ich habe nicht vor, Ihnen etwas anzutun«, versicherte er ihr leise. »Sagen Sie mir, wie Sie heißen.«
Charlotte begann jetzt die Wirkung des Weins zu spüren, und ihre Furcht zog sich hinter eine zunehmende dunklere Wand zurück. »Aphrodite«, erwiderte sie gähnend. »Tochter des Zeus.«
Als sie sich ihren Vater mit einer Toga bekleidet auf der Spitze seines ganz privaten Bergs Olympus in Puget Sound vorstellte, mußte sie lachen. »Zeus' Zorn ist furchtbar«, sagte sie kichernd. »Wenn mein Vater das erfährt, wird er außer sich sein.«
Seufzend richtete Patrick sich auf. »Es wäre sinnlos, jetzt mit Ihnen zu reden«, sagte er. »Schlafen Sie, Göttin.«
Charlotte zog die Decke bis unter die Nasenspitze. »Wagen Sie ja nicht, mir Gewalt anzutun!«
Wieder lächelte er nachsichtig. »Keine Angst — reiche, verwöhnte Mädchen reizen mich nicht.«
»Verwöhnt?!« Charlotte wollte sich aufrichten, aber ihr fehlte die Kraft. Sie schloß die Augen, ließ sich in die Kissen zurücksinken und schlief augenblicklich ein.
Patrick schickte nach Cochran, der sofort kam und eine Schüssel warmes Wasser, saubere Tücher und eine Salbe mitbrachte. Er schaute das schlafende Mädchen lange an, bevor er mitleidig den Kopf schüttelte.
»Armes Ding. Sie scheinen sie sehr mißhandelt zu haben.«
Patrick runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?« fragte er und schaute seinen Freund so wütend an, als sei Cochran persönlich für Charlottes bedauernswerten Zustand verantwortlich.
Der erste Maat lächelte. »Ich wollte damit nicht sagen, daß ihr Gewalt angetan worden ist. Die Entführer wissen genau, daß sie damit ihren Wert gemindert hätten ... Obwohl ich zugeben muß, daß es ein wahres Wunder ist, daß sie nicht doch der Versuchung erlegen sind.«
Patrick schluckte vor Erleichterung. »Sie will mir nicht sagen, wie sie heißt.«
»Wahrscheinlich mißtraut sie dir.« Cochran zuckte die Schultern. »Wundert dich das, nach allem, was sie erlebt hat?« »Nein«, gab Patrick widerwillig zu.
Charlotte drehte sich auf die Seite und wimmerte leise.
»Sie haben sie schlimm herumgestoßen«, bemerkte Cochran und deutete auf die dunklen Flecken an Charlottes Armen und Schultern. »Vielleicht sollten wir Ness kommen lassen ...«
»Ich werde ihre Wunden selbst versorgen«, fuhr Patrick auf, um dann etwas ruhiger hinzuzufügen: »Wir werden bald wissen, wer sie ist. Und dann schicken wir sie heim.«
»Hm«, erwiderte Cochran. »Dabei solltest du vielleicht bedenken, daß es Leute gibt, die in derartigen Situationen ein sehr eigentümliches Verhalten zeigen.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
Cochran stand schon an der Tür. »Egal, ob die junge Dame nun entjungfert wurde oder nicht, gibt es Eltern, die sie als Ware aus zweiter Hand betrachten würden, als eine Art Familienschande. Viele würden sich sogar weigern, sie zurückzunehmen.«
Patrick schaute das schlafende Mädchen auf seinem Bett an, aber er sah nicht die Frau in ihm, sondern das Kind, das er vor so langer Zeit in Seattle aus der Takelage gerettet hatte. Es schmerzte ihn, daß ausgerechnet jene Menschen, denen sie vertraute und die sie liebte, sie nun vielleicht verstoßen würden. »Geh«, sagte er niedergeschlagen zu Cochran und hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloß.
Sehr sanft schlug er dann die Bettdecke zurück und reinigte die zahlreichen Wunden der jungen Frau, bevor er sie mit Brandy abtupfte. Das Mädchen erwachte nicht, selbst dann nicht, als Patrick sie aufrichtete und in eins seiner Hemden kleidete.
Offensichtlich war sie zu Tode erschöpft. Der Gedanke erfüllte Patrick mit ungewohnter Zärtlichkeit, und er blieb eine Weile vor dem Bett stehen und betrachtete sie nachdenklich. Dann drehte er den Docht der Lampe herunter und ging an Deck.
Als er zurückkehrte, hatte sein schöner Gast im Schlaf die Decke abgestreift und ihre langen, wohlgeformten Beine entblößt, die so weiß und durchsichtig waren wie feinstes Porzellan.
Patrick setzte sich auf die Bettkante, streifte die Stiefel ab und begann seine Hose aufzuknöpfen. Dann folgte das Hemd — ein weites, am Hals offenstehendes Hemd von der Art, wie es Piraten trugen.
Vorsichtig, um die Schlafende nicht zu wecken, kroch Patrick ins Bett und rollte sich gähnend auf die Seite. Die Frau bewegte sich, streckte eine Hand aus und legte sie auf Patricks Po.
Sein ganzer Körper versteifte sich, vom Kopf bis in die Fußsohlen, und sein Glied stand plötzlich aufrecht wie der Hauptmast seines Schiffs. Mit einem verhaltenen Fluch rückte Patrick von dem schlafenden Mädchen ab, doch oben auf Deck wechselte die Wache und wurde noch einmal abgelöst, bevor er endlich Ruhe fand.
Als Charlotte erwachte, strömte heller Sonnenschein durch das geöffnete Bullauge, und sie war allein in der Kapitänskajüte. Zumindest nahm sie an, daß Mr. Trevarren der Kapitän des Schiffes war, wenn er eine solch komfortable Unterkunft sein eigen nannte.
Während sie sich wohlig räkelte, sah sie, daß sie eins von Patricks Hemden trug. Er mußte es ihr angezogen haben, als sie schlief.
Der Gedanke beschämte Charlotte, aber sie verschwendete nicht allzu viel Energie darauf. Eine andere Sorge beschäftigte sie viel mehr. Gestern, als sie Patrick erblickt hatte, war sie überzeugt gewesen, sich nun in Sicherheit zu befinden, in der Obhut eines Landsmannes. Doch nun, während sie über den sichtbaren Abdruck auf dem Kopfkissen neben ihr nachdachte, begann diese Überzeugung zu schwanken.
Eine jähe Angst erfaßte Charlotte. Sie hatte Wein getrunken gestern nacht und war danach in einen tiefen Schlaf gesunken ... War es möglich, daß Patrick die Situation ausgenutzt und sie ... entehrt hatte?
Errötend spreizte sie die Schenkel und berührte sich. Aber sie war weder wund, noch spürte sie sonst irgend etwas Ungewöhnliches — allerhöchstens ein leises Gefühl der Lust bei der skandalösen Vorstellung, Patrick könnte sie auf solch intime Weise berührt haben.
Beschämt zog Charlotte die Hand zurück.
Da klopfte es, und bevor Charlotte rufen konnte, daß sie allein sein wollte, trat Patrick ein.
Charlotte maß ihn mit einem ärgerlichen Blick. »Es schickt sich nicht, daß Sie hier drinnen sind!«
Mr. Trevarren lachte. »Irrtum. Es schickt sich nicht, daß Sie hier sind, Göttin. Denn dies ist immerhin meine Kabine.«
»Sie haben in diesem Bett geschlafen«, warf Charlotte ihm vor.
»Richtig, dasiuedas tueehr oft«, gab Patrick heiter zu. »Fühlen Sie sich heute morgen etwas besser?«
Die Erinnerung an die sinnliche Erregung, die sie eben noch verspürt hatte, ließ Charlotte erröten. »Ja«, erwiderte sie knapp. »Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mich heimzuschicken ...«
»Gern.« Patrick hatte ein Tablett mitgebracht und schenkte aromatischen türkischen Kaffee ein. »Sie brauchen mir nur zu sagen, wie Sie heißen.«
»Charlotte.« Es ärgerte sie, daß er sich nicht an sie erinnerte, und aus einem Instinkt heraus verzichtete sie darauf, ihm ihren Familiennamen zu nennen. Der Name >Quade< war im Staate Washington ein Symbol für Reichtum und Macht. Die Möglichkeit, daß Patrick nicht bloß der attraktive Kapitän eines schnellen Seglers war, sondern auch ein Sklavenhändler und Entführer, war nicht von der Hand zu weisen. Falls er merkte, welch hohes Lösegeld Charlotte einbringen würde, bedeutete das vielleicht erst den Beginn ihrer Leiden statt deren Ende.
Er brachte ihr eine Tasse Kaffee. »Charlotte«, wiederholte er nachdenklich. »Charlotte was?«
»Nur Charlotte.«
Patricks blaue Augen wurden schmal, und Charlotte machte sich schon auf eine Auseinandersetzung gefaßt. Doch da lächelte er ganz plötzlich. »Sie machen es mir nicht leicht«, meinte er freundlich. »Vielleicht sollte ich Sie besser verkaufen, wenn wir anlegen, oder meinem Freund Khalif für seinen Harem schenken.«
Charlotte ließ vor Schreck fast ihre Tasse fallen. »Über solche Dinge scherzt man nicht! Finden Sie nicht, daß ich schon genug durchgemacht habe?«
»Sie sind eine freche Göre ...« Patrick verdrehte die Augen. »Und um einiges zu entgegenkommend nachts, wenn ein Mann nichts als seinen Schlaf will ...«
»Wie bitte?«
Patrick lachte und verschränkte die Arme. »Gut, jetzt scheinen Sie mir also endlich zuzuhören! Ja, Sie und ich haben gestern nacht im selben Bett geschlafen, meine liebe Charlotte, und ich will verdammt sein, wenn Sie nicht die Hand ausstreckten und sie auf meinen Po legten!«
Zum ersten Mal in ihrem Leben errötete ChärloCharlotteftig, daß ihre Wangen schmerzten. »So etwas würde ich niemals tun!«
Patrick lächelte. »Doch. Gestern. Sie können froh sein, daß Sie es mit einem Gentleman zu tun haben.«
Charlotte war fassungslos: Mr. Trevarrens Dreistigkeit kannte keine Grenzen. O nein, das war ganz entschieden nicht der Mann, von dem sie zehn Jahre lang geträumt hatte! In einem jähen Anfall von Zorn griff sie auf ihr Holzfällerlager-Vokabular zurück.
»Wagen Sie es bloß nicht, sich in meiner Gegenwart als Gentleman zu bezeichnen, Sie ... Sie Teufelsbraten! Sie Sohn einer verlausten ...«
Patrick hob lachend die Hand und verbeugte sich vor Charlotte. »Keine Ursache, Miss Charlotte-ohne-Namen. Sie brauchen sich wirklich nicht bei mir zu bedanken.«
»Hinaus! Verschwinden Sie!« zischte Charlotte.
»Das ist meine Kabine«, entgegnete Patrick ruhig. »Falls hier irgend jemand verschwindet, Göttin, dann höchstens Sie.«
»Gern! Sie brauchen mir nur etwas zum Anziehen zu geben, und dann bin ich so schnell weg, daß Sie glauben werden, eine Halluzination gehabt zu haben!«
Ihr Zorn schien Patrick zu amüsieren, pfeifend öffnete er eine Truhe und nahm eine schwarze Hose und einen breiten Ledergürtel heraus. Beides warf er Charlotte wortlos zu.
»Hosen?« fragte sie verunsichert.
Patrick nickte lächelnd. »Ich fürchte, das ist alles, was ich habe, liebste Charlotte. Da ich selbst keine Kleider trage, sehe ich auch keinen Grund, welche in meiner Truhe mitzuführen.«
Charlotte schloß die Augen. »Wenn Sie mich bitte allein lassen würden«, sagte sie mit mühsam erzwungener Beherrschung.
»Selbstverständlich«, erwiderte er höflich, ging jedoch nicht hinaus, sondern drehte ihr nur seinen breiten Rücken zu.
Indem sie die Decken als eine Art Zelt benutzte, zog Charlotte rasch die Hosen an, die ihr viel zu weit um die Taille und um den Po herum zu eng waren, stopfte das Hemd in den Hosenbund und befestigte den Gürtel. Sie verspürte ein dringendes Bedürfnis, den Nachttopf zu benutzten, aber das war natürlich ausgeschlossen, solange Mr. Trevarren in diesem Raum war.
»Wo sind wir?« fragte sie, um sich abzulenken, und trat an das Bullauge. Weit und breit nichts als türkisfarbenes Meer und weiße Sandstrände, hinter denen die endlose Wüste begann. »Gibt es hier eine amerikanische Botschaft?«
»Ich fürchte, nein, Göttin«, erwiderte Patrick belustigt. »Wir befinden uns allerdings ganz in der Nähe der Residenz des Sultans von Riz. Aber ich würde Ihnen nicht raten, an Land zu schwimmen, denn das Schiff ist von mindestens hundert Haien umringt, die auf die Küchenabfälle warten.«
Bevor Charlotte etwas erwidern konnte, knurrte ihr Magen, der an ein herzhaftes Frühstück gewöhnt war. »Ich will nach Hause«, murmelte sie kläglich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Zu Charlottes Überraschung verhielt Patrick sich jetzt doch wie sein Ebenbild aus ihren Träumen. Sanft strich er mit den Fingerspitzen über ihre Wange. »Bald«, sagte er rauh. »Ich verspreche es, Charlotte. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun.«
Sie hätte ihm so gern geglaubt — so verzweifelt gern —, aber sie war nicht dumm und wußte daher, daß die Regeln in ihrem Leben seit ihrer Entführung eine bedeutende Veränderung erfahren hatten.
»Ihre Familie ... Würden Ihre Eltern Sie zurücknehmen?« fragte Patrick nachdenklich.
»Warum sollten sie das nicht tun?« erwiderte Charlotte empört.
Patrick musterte sie forschend. »Selbst angesichts der Tatsachen, daß Sie selbst keine Schuld an der Entführung trugen — abgesehen von der idiotischen Idee, ohne männlichen Schutz im Souk herumzulaufen — ist Ihr Ruf jetzt nicht mehr das, was er einmal war, Charlotte. Es gibt Leute, die Sie nicht mehr in ihren Salons empfangen und Sie auch nicht mehr auf der Straße grüßen würden.«
Patricks Feststellung war nicht nur unfair, sondern nur allzu wahr, und Charlottes Zorn entsprang zum Teil ihrer Verzweiflung. »Die Leute, die mir wichtig sind — mein Vater, meine Stiefmutter, meine Geschwister, meine Tante und mein Onkel, meine Cousins und meine Freunde — würden mich nicht nur zurücknehmen, sondern freudig willkommen heißen!« entgegnete sie aufgebracht.
Patrick zog sie in die Arme. »Natürlich werden sie das. Ganz bestimmt. Aber lassen Sie mich Ihnen jetzt etwas zu essen holen.«
Patrick war kaum hinausgegangen, da schob Charlotte hastig einen Stuhl unter die Türklinke und benutzte den Nachttopf.
Sie hatte ihn gerade wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückgestellt, als Patrick zurückkehrte und ihr ein Tablett mit Porridge, Brot, Butter, Marmelade und Kaffee brachte.
»Ich würde mich gern einmal auf Deck umsehen«, sagte Charlotte, als sie ihren ärgsten Hunger gestillt hatte.
Patrick blätterte in einem Logbuch. »Ein andermal«, erwiderte er gleichgültig. »Wir werden im Palast erwartet, Göttin. Mein Freund, der Sultan, haßt Enttäuschungen.«
Enttäuschungen? Also wollte Patrick sie anscheinend doch verkaufen ... oder verschenken. Charlottes Appetit war ihr vergangen, aber sein Blick auf ihre schlechtsitzende Kleidung brachte sie auf eine verzweifelte Idee. »Ich kann doch nicht in diesem Aufzug zu einem Besuch zu einem Sultan gehen!«
Patrick klappte das Buch zu. »Kein Problem«, erwiderte er geistesabwesend. »Es gibt genug Frauen im Palast. Sie können Ihnen etwas Passendes geben.«
Damit wandte er sich zur Tür.
»Warten Sie!« rief Charlotte.
»Ja?«
»Ich will nicht in irgendeinen Harem verschleppt werden!«
Jetzt schien Patrick zu begreifen, ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Dachten Sie, ich würde Sie an Khalif verkaufen? Das war bloß ein Scherz, Göttin. Es handelt sich nur um einen Besuch beim Sultan, und es wäre schade, wenn Sie die exotischen Speisen, die Musik und den Tanz verpassen würden.«
Etwas in Charlottes Abenteurerseele regte sich, doch ihr Mißtrauen war noch nicht ganz erloschen. Immerhin war ihre Lage sehr prekär. »Woher soll ich wissen, daß Sie die Wahrheit sagen?«
Patrick zuckte die Schultern. »Vertrauen Sie mir einfach«, sagte er und ging hinaus. Charlotte hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloß herumdrehte.
Eine Stunde später erschien ein Seemann, um sie abzuholen und an Deck der Enchantress zu begleiten. Charlotte hatte so oft von dem Schiff geträumt und es so oft gezeichnet, daß sie sich auf dem Klipper schon fast zu Hause fühlte.
Patrick wartete an der Reling neben einer Strickleiter. »Soll ich Sie tragen?« erkundigte er sich mit einer Zuvorkommenheit, die nur als Spott gewertet werden konnte.
Charlotte hatte als Kind mit ihrer Schwester Millie unzählige Bäume bestiegen und würdigte ihn daher keiner Antwort. Nach einem hochnäsigen Blick auf ihn schwang sie ein Bein über die Reling und stellte ihren nackten Fuß auf die erste Sprosse der Strickleiter.
Aber der Abstieg war schwieriger, als sie erwartet hatte, hauptsächlich wegen der dunklen Schatten, die sich unter der Wasseroberfläche tummelten. Charlotte bemühte sich, nicht zu den Haien herabzuschauen. Als starke Arme sie umfingen und ins Beiboot hoben, atmete sie erleichtert auf.
Zwei Männer in Burnussen und Turbanen warteten am Strand. Bei ihrem Anblick drängte sich Charlotte näher an Patrick und hoffte, daß er sein Wort halten und sie wieder mitnehmen würde, wenn er den Palast verließ.
Doch dann forderte er sie zu ihrem Schrecken auf, den beiden Arabern zu folgen. »Und was auch geschehen mag«, fügte er warnend hinzu. »Sie dürfen ihnen niemals widersprechen! Wenn die Zeit zum Aufbruch kommt, lasse ich Sie holen.«
Als der größere der beiden Männer Charlottes lange Hosen und das weite Hemd sah, verzog er mißbilligend das Gesicht, klatschte in die Hände und schrie etwas. Zwei Frauen in seidenen Gewändern, aus denen nur Hände und Augen hervorschauten, erschienen und nahmen Charlotte in ihre Mitte.
Über einen gepflasterten, von hohen Wänden umgebenen Hof führten sie sie in das Innere des Palastes. Ihre dunklen Augen verrieten Verwunderung und Betroffenheit, während sie Charlotte über einen Gang scheuchten, der in einem prächtigen Raum mit Kissen, Sofas, Teppichen und Springbrunnen endete.
Eine der Frauen klatschte in die Hände, so herrisch wie der Mann am Strand, und überall erhoben sich Frauen von Sofas und Sitzkissen und begannen Charlotte zu umringen. Kichernd deuteten sie auf ihre Männerhosen und ihre nackten Füße und berührten zaghaft, als fürchteten sie sich vor Läusen oder Flöhen, ihr schmutziges Haar.
Charlotte konnte sich nicht entsinnen, sich jemals in ihrem Leben so erniedrigt gefühlt zu haben. Doch neben ihrer Angst empfand sie auch eine gewisse Neugierde. Immerhin war sie die erste junge Frau in ihrem Freundeskreis, die einen Sultanspalast betreten hatte. »Spricht hier jemand Englisch?« fragte sie höflich.
Ein Schwall von Gelächter und Getuschel war die Antwort: Charlotte wurde an der Hand genommen und zu einem großen Wasserbecken geführt. Dann zogen die Frauen ihr die geborgten Kleider aus, und obwohl Charlottes erster Impuls war, sich zu wehren, wußte sie, daß es sinnlos wäre. Ein Dutzend Frauen, die alle recht kräftig wirkten, umringten sie.